Wartenburg-Corona-Tagebuch – Angst und Sorge
Angst und Sorge gehen um, gehen um den Globus und lassen jeden Einzelnen fragen: Werde ich verschont bleiben oder wird es mich treffen?
Und warum mich? Das ist keine statistische Frage, sondern eine ganz existentielle. Wir haben noch keine Vorstellung davon, was die Maßnahmen zur Beschränkung der Verbreitung des Virus für Folgen für die gesamte Wirtschaft und damit verbunden auch für das gesamte Gefüge unserer Welt und unserer einzelnen Staaten und Kommunen haben wird. Die Wissenschaftler haben weltweit immer noch kein Gegenmittel finden können. Wir beschränken uns vorerst auf Maßnahmen zur Verminderung des Ausbruchs des Virus und hoffen, die entsprechenden Labore würden inzwischen bei ihrer angespannten Suche ein Gegenmittel finden, das vorbeugend beziehungsweise heilend wirkt.
Die Atmosphäre im Lande ist unheimlich. Die Stille auf den Straßen hat etwas Unheimliches. Gleichzeitig schickt die Frühlingssonne uns die Blumenpracht, die vielen, vielen kleinen Blumen in unseren Parkanlagen, Gärten und Vorgärten. Manches wird noch Opfer des Frostes werden, aber das schaffen die Pflanzen schon. Ob wir davonkommen werden, wir als Weltgesellschaft und als Einzelne, steht noch dahin.
„Keine Panik machen“ sagt die eine Stimme in uns, „Es wird beherrschbar werden“, sagt die andere. Und die Dritten fragen: „Wo ist das Problem?“ und blinzeln in die Sonne. Als ob nichts wäre, ist das Warenangebot in den Supermärkten reichlich. Die Regale dort sind gefüllt – außer die mit Klopapier! Also kein Grund zur Sorge? An den Tankstellen bilden sich keine Schlangen. Strom, Heizung und das Internet funktionieren. Die Züge fahren, wenngleich reduziert.
Keine Unruhe, auch der Stubenkoller ist bisher noch ausgeblieben. Der Staat und seine Institutionen handeln bedacht und ihr Handeln wird von den Bürgern akzeptiert.
Von anarchischer Kriminalität oder blindwütiger Zerstörung ist nichts zu hören. Noch nicht.
Aber es gibt Leute unter uns, die die Probleme ignorieren, vor denen andere resignativ kapitulieren. Eine weithin auf Fun orientierte jüngere Generation bleibt gleichgültig gegenüber allem, was Politik und Mediziner warnend sagen.
Diese aber weisen uns Wege, die uns auch etwas abverlangen. Wege in der Gefahr.
Hoffen wir auf den Tag, an dem wir uns entspannt zurücklehnen können: „Weißt Du noch, wie es war, damals, im März 2020?“
Dass dieser Tag bald komme, das ist die Sehnsucht von Millionen Menschen, von Millionen Einzelnen überall auf der Welt.
Vielleicht gibt es doch und sogar bald eine Entwarnung. Denn Wunder gibt es immer wieder. Aber es ist kein Verlass auf das rettende Wunder: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Trotzdem ist es tröstlich für den, der Hölderlin zustimmt, von Herzen.
Machtlosigkeit darf nicht in verantwortungslose Lethargie umschlagen.
Wir müssen uns alle, jeder an seinem Platze und mit seinen Fähigkeiten, mit Hoffnung gegenstemmen und die lähmende Angst nicht herrschen lassen, sondern mit Motivation für dieses Leben in dieser wunderbaren Welt etwas Hilfreiches, Lösendes, Rettendes tun.
Ein Satz mit Wirkungsgeschichte geht mir durch den Sinn: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes).
Getrost handeln und Niederlagen begegnen, aus der Kraft der Hoffnung, dass wir noch davonkommen.
Es kann noch gut und es kann noch schlimm und schlimmer werden, aber eines ist jetzt schon klar: Wir spüren, was unser Leben ausmacht und reich macht, nämlich die gegenseitige Zuwendung und Nähe, die Kultur und der Sport, der Tanz und das Malen, das Gedicht und der Rock, die Feste in unserem Lebens- und Jahresrhythmus ein Brot und ein Wein.
Auf all das müssen wir vorübergehend weitgehend verzichten. Und das dann doch nur dann vorübergehend, wenn wir uns entschließen und uns allesamt dazu ermuntern und auch ermahnen, den Virus durch zeitweilige Verzichtsleistungen einzudämmen. Die Zeit, die uns gegeben ist, nicht verstreichen lassen, sondern erfüllen, mit Stille, Selbstbesinnung und Selbstklärung. Den Sinn für das Schöne wiedergewinnen.
Wir spüren schon nach weniger Zeit, wenigen Wochen, was uns fehlt und worüber wir dankbar sein können, wenn wir es wieder überwunden haben, was uns ausmacht, uns überschreitet, beglückt und Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit miteinander verknüpft. Im Genuss dieses Lebens mit seinen Farben und Gerüchen, seinem Geschmack und Musik.
Wir können und werden entdecken, was unser Leben reich, tief beglückend macht und worauf wir nicht verzichten wollen und nicht verzichten brauchen. Auf ein Leben mit immer geringer werdender Verlustangst und immer größer werdender Solidarität mit denen, die unsere Hilfe brauchen, mit denen wir teilen, was wir haben, weil wir selber mehr sind als wir haben.
Friedrich Schorlemmer
(Foto: Malte Jäger)
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