Zwischen Fiktion und Realität – zwischen Traum und Wirklichkeit
„ Im schwach erleuchteten Frühnebel des Augustmorgens sahen die zum Tode Verurteilten erblassend die Gestänge des Galgens …. Es waren einige jener Offiziere, die am 20. Juli des Jahres versucht hatten, die Diktatur … in jäh losbrechender … Auflehnung zu stürzen. Einer der Verschworenen, Oberst Graf von Stauffenberg, hatte den Tyrannen selbst, … beseitigen wollen.
Dies war mißlungen, der Aufstand in der Hauptstadt desgleichen, die Verschwörer, soweit sie nicht im Kampf gefallen waren …, standen bald vor … dem sogenannten Volksgerichtshof, dessen erbarmungslose und fanatische Richter sie allesamt zum Tode durch den Streng verurteilten.
Die acht Offiziere … waren sehr verschiedenen in Rang und Alter. Der älteste, Feldmarschall, hatte hohen Ruhm gewonnen …. Vom General ging es weiter bis zum jüngsten hinab, dem in den Zwanzigern stehenden Leutnant Graf Yorck von Wartenburg, Träger eines der berühmtesten Namen deutscher Vergangenheit, der ein junger Mensch war mit braunem Haar und schönen, jetzt aber vor unterdrücktem Grauen gänzlich leeren Augen.“ (S. 5/6)
Mit diesen Sätzen, von mir gekürzt, leitet der damals 30jährige junge Schriftsteller Stephan Hermlin (1915- 1997) seine Erzählung „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“ ein. Sie wurde Anfang 1945 in der Schweiz geschrieben und 1946 erstmals veröffentlicht. Hermlin betont einleitend:
„Es sei ausdrücklich vermerkt, daß diese Erzählung von einer Novelle des Amerikaners Ambrose Bierce angeregt wurde.“ (S. 5)*
Hermlin erzählt eine fiktive Geschichte. Er nennt die junge handelnde Person richtig als Peter Graf Yorck von Wartenburg.
Die historische Person wurde 1904 in Klein-Oels geboren und am 8. August 1944 in Berlin Plötzensee grausam hingerichtet,
zusammen mit:
- Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben (*1881), Ranghöchster Teilnehmer der Verschwörung
- Generaloberst Erich Hoepner (*1886), Unterstützer der Verschwörung
- Generalleutnant Paul von Hase (*1885), Stadtkommandant von Berlin
- Generalmajor Hellmuth Stieff (*1901), Verbindungsoffizier im Generalstab
- Oberstleutnant Robert Bernardis (*1908), Verbindungsoffizier zu einzelnen Wehrkreiskommandos
- Oberleutnant d. R. Albrecht von Hagen (*1904), Verbindungsoffizier zu den Dienststellen
- Hauptmann Friedrich Karl Klausing (*1920), Adjutant von Stauffenberg
Hermlin lässt in der Hinrichtungsstätte die Handlung beginnen:
„Herkunft, Erziehung und das Erlebnis des Krieges hatten jeden dieser Männer mit dem Tode vertraut gemacht …. Daß sie … zögerten, erschauderten, war weniger dem Anblick des Galgens zuzuschreiben …. Vielmehr erkannten sie alle gleichzeitig, daß die Henker furchtbare Rache an ihnen zu nehmen gedachten.
Dem Generalobersten H. entfuhr ein Ausruf, den einer der begleitenden Henkersknechte mit einem Fluch und einem Kolbenstoß beantwortete. Man trieb sie auf die Maschinen zu, wo man ihnen einen Ring um den Hals legte, der durch Schrauben verengert und erweitert werden konnte. Ihr Tod sollte sich vertausendfachen, … ehe ihre Leichname am Galgen hängen würden.
Yorck fühlte sich in den Block gestoßen, und gleich darauf schloß sich der Ring um seine Kehle. Seine Augen sahen groß und erschrocken über den Hof hin … .(S. 8/9)
(und er)…taumelte blind und taub zwischen Vorhölle und Hölle hin und zurück.
Er wußte nicht, wie lange dies alles dauerte. … (S. 10/11)
Neben sich hörte er auf einmal jemand deutlich: ‚Schnell, Herr Leutnant! Wir müssen es schaffen!‘ “(S. 14)
Nun folgt eine abenteuerliche Flucht.
Man zog Yorck durch eine Einfahrt hindurch und in einen bereitstehenden Wagen hinein. Die Fahrt wollte nicht enden und Yorck „…versuchte nicht, Wegweiser oder Ortstafeln zu erkennen.“ (S.16) Plötzlich fuhren sie durch ein Tor und es zeichnete sich die Fassade eines massiven Gebäudes ab. Die Wagentür wurde geöffnet und auf den Arm eines väterlichen Freundes gestützt, „stieg der Leutnant wie im Traum die Treppe empor.“ (S.17) Ein Zimmer ward für ihn hergerichtet und ein Lager bereitet.
„Er sehnte sich plötzlich danach, allein zu sein, die Lichter zu löschen, traumlos zu schlafen.“ (S.22)
Aber es ging nicht! Hermlin lässt Bilder von Yorcks Jugend an dessen Stirn vorbeiziehen.
„Yorcks Gedanken irrten ab. Er sah sich über einen Feldweg reiten, im weißen Hemd,
auf Apollon, dem ostpreußischen Hengst, …. Wann war das doch?“ (S.24)
1916 hatte eine bekannte norwegische Malerin Peter und seinen zwei Jahre älteren Bruder Paul reitend porträtiert.
Übrigens waren die Brüder 1913 in unserem Ort zur 100 Jahrfeier der Schlacht von Wartenburg und zur Einweihung des Denkmals ihres Urahnen.
Auch Yorcks Verlobte tauchte in seinen Gedanken auf. Sie wollen heiraten. „Er dachte … an gewisse mißbilligende Andeutungen älterer Verwandter, wie seltsam es sei, daß ein Yorck von Wartenburg eine Bürgerliche zu ehelichen gedächte, und sei es auch die Tochter eines Konsistorialrates.“ (S.21)
In der Erzählung nennt Hermlin sie Anna.
In Wirklichkeit ist es Marion Winter (1904-2007), Tochter eines Königlichen Geheimen Hofrats und Verwaltungsdirektors, Juristin und spätere deutsche Richterin.
Nun hört Yorck ein Trompetensignal. Plötzlich schweifen seine Gedanken in die Geschichte und er findet sich in einem Zimmer wieder.
„Zwei Männer saßen an einem Tisch. Von Kerzen tropft Wachs auf die ausgebreiteten Karten. Draußen knirscht der Frost in den osteuropäischen Wäldern. Alles das hatte er in den Tagträumen schon hundertmal gesehen. Diebitsch beugt sich vor, seine Augen leuchten, und er sagt: ‚Ich beglückwünsche Euer Exzellenz. Darf ich den Entschluß Euer Exzellenz als den ersten Schritt zu einem Bündnis aller freiheitliebenden Völker Europas werten?‘
Der andere wendet sich um. Im Schein des Kaminfeuers, das sein offenes, nun fast lächelndes Gesicht beleuchtet, sieht man ihn nachdrücklich nicken. ‚Ja, Herr General.‘ – Diebitsch erhebt sich, seine Augen sind verzückt, er öffnet auf feierliche Weise die Arme …“ (S. 28/29)
Dann legt Hermlin Diebitsch französische Worte in den Mund, die übersetzt bedeuten:
Der Name General Yorck wird fortan mit dem blutigen Sturz Bonapartes verbunden sein. Die Freiheit ist in Bewegung .
„Wieder die fernen Trompetenstöße. Oder war es der Beethovensche Yorckmarsch?“ (S.29)
Nun schöpft Yorck Kraft. Hermlin versetzt ihn zur Front in den Osten Europas.
Dort hatten deutsche Offiziere einen Bund und andre Patrioten ein Nationalkomitee Freies Deutschland gegründet. Yorck wird mit Aufgaben betraut, soll nach Deutschland zurückkehren.
Und wieder beginnt eine rasante Fahrt mit dem Auto. Der Wagen kommt ins Schleudern und Yorck spürt einen in die Tiefe gehenden Sturz. Über seine Augen legt sich ein Schleier.
„Yorck, an der Schwelle des Todes, fühlte … keine Furcht mehr. Er war der letzte, den sie an den Galgen würden hissen müssen wie eine schwere, dunkle Fahne. Mit einem unendlichen Blick maß er das Gelände.“ (S. 51)
„Kein Schmerz war in ihm und keine Enttäuschung. Er war ganz allein, und auf die Hand, die nun die Schraube zu drehen begann, spiegelte sein ruhiger Blick den letzten Widerschein von Städten, Menschen, Gefühlen und Erkenntnissen seines geträumten Lebens.“ (S. 52)
In seinem später selbstgeschrieben Nachwort erklärt Hermlin:
„Der Verfasser erzählt einen Traum, den letzten Lebensaugenblick eines Sterbenden.
Er erzählt nicht von deutscher Geschichte, sondern von einer deutschen Möglichkeit.“ (S. 54)
Im Gedenken an Peter Graf Yorck von Wartenburg, ein Held des antifaschistischen Widerstandes 1944.
(Wolfgang Kunze, Wartenburg 2024)
Hermlin, Stephan Der Leutnant Yorck von Wartenburg, Insel-Verlag, Leipzig 1954
* Bierce, Ambrose (1842-1914) exzellenter Autor novellistischer Prosa in der amerikanischen Literatur
0 Kommentare