Vor 205 Jahren – eine kleine Chronik

Anfang Januar 1814
Wartenburg in Sachsen:

Am Neujahrsmorgen  beugt sich Pfarrer August Rudolph Gerstäcker (1780-1814) über seine Aufzeichnungen der letzten Wochen. Immer wieder hat er sie gelesen, hier und dort verbessert und Ergänzungen vorgenommen. Was war doch in den vergangenen vier Monaten alles geschehen? Er selbst glaubt um Jahre gealtert zu sein.

Im September 1813 begannen die Aufregungen. Der ständige Wechsel der Besatzungen hatte der sächsischen Dorfgemeinschaft mächtig zu schaffen gemacht, auch ihm, körperlich, vor allem seelisch. Er versuchte alles zu dokumentieren. Dann kam das große Schlachtgetümmel am Sonntag, dem 3. Oktober, danach der Durchzug der über 80 000 preußischen und russischen Truppen, das beängstigende, sich in die Länge ziehende Biwak bis Globig, die Verschanzung des Ortes, die erneuten Besatzungen, Franzosen, Preußen,  Kosaken. Was für eine Not? Das Dasein schien unerträglich. Dann kam die Nachricht von der großen Schlacht von Leipzig und dass sein König das Bündnis mit Napoleon aufgegeben hatte. Nun sollen die Preußen die neuen Verbündeten sein? In seiner Weihnachtsandacht hatte er Kritisches angemerkt. Wie sollte es weiter gehen?

Eigentlich wollte er sich mit Küster und Lehrer Johann Friedrich Eigendorf (1751-1814)beraten. Dieser war 1778 mit 27 Jahren nach Wartenburg gekommen, übernahm die Küsterstelle und hatte einen einfachen Schulbetrieb aufgebaut. Die Erfahrungen des Älteren waren dem Pfarrer schon wichtig.

Er blickt von seinen Aufzeichnungen auf und schaut durch die Fensterscheiben in den frostigen Tag hinein. Wieder hadert er in Gedanken mit den Preußen. Trotzdem war er von einer Persönlichkeit beeindruckt. Dieser Blücher! Er hatte ihn im Oktober stolz auf dem Pferd in Richtung Schloss reiten sehen. Angeblich nennt man ihn im Volksmund General „Vorwärts“. Vielleicht zu recht!

Kaub am Rhein:

Am gleichen Tag steht etwa 500km westwärts der zum Feldmarschall ernannte Blücher auf der Anhöhe am Ufer des Rheins und drängt auf den zügigen Übergang über den Fluss. Ja, er will den Napoleon jagen.

Nach der Völkerschlacht von Leipzig war der „verwundete Löwe“ den Verbündeten entkommen und auf dem schnellsten Wege nach Paris gelangt, hatte aber vorher noch in Hanau bayrische Truppen unter dem Generalleutnant Carl Philipp von Wrede(1767-1838) besiegt. Die Reste einer ehemals gewaltigen Armee setzten über den Rhein, nun bemitleidenswerte Soldaten.  Zwei französische Autoren haben das sehr eindringlich in der Erzählung „Der Soldat von 1813“ beschrieben. Der große Romancier Emile Zola(1840-1902) schrieb später, dass er kein schöneres Plädoyer gegen den Krieg kenne als diese ergreifenden Seiten. Aber Napoleon glaubte bis zum Frühjahr 1814 Zeit zu haben, um für einen neuen Feldzug gerüstet zu sein und setzte im Senat eine Aushebung von 300000 Mann durch, nun auch für die Jahrgänge 1798/99.

Die Verbündeten stritten seit Anfang November 1813  in Frankfurt am Main, ob und wie gegen Napoleon weiter vorzugehen sei. Nach langem Hin und Her entschlossen sie sich, nach vertraglicher Vereinbarung, zur Eröffnung eines neuen Feldzuges am 1. Januar 1814.

Die Hauptarmee unter Schwarzenberg mit 190000 Mann sollte über Basel in das südliche Frankreich einmarschieren, die Schlesische Armee unter Blücher mit etwa 100000Mann den Mittelrhein überqueren, Verbindung zu Generalleutnant von Bülow(1755-1816) halten, der seit Wochen siegreich in den Niederlanden operierte und dann zur Hauptarmee vorstoßen. Ein Großteil der Nordarmee belagerte, die noch in französischen Besitz befindlichen Festungen, wie Torgau, Wittenberg und Magdeburg.

Blücher drängte zwar auf ein schnelleres Unterfangen, trotzdem feierte er erst einmal groß seinen 71. Geburtstag am 16. Dezember in Wiesbaden und lies laut verkünden, sein Hauptquartier nach Frankfurt am Main zu verlegen, um die Franzosen zu irritieren. Gegenüber dem Rhein lag das französische Mainz mit der Endstation einer genialen technischen Einrichtung, der optischen Telegrafenlinie, bestehend aus Fernrohren und beweglichen „Buchstabenflügel“, die bis in das 200km westlich gelegene Metz reichte und dann weiterführte bis Paris. Bei optimalem Wetter konnten Nachrichten innerhalb einer Stunde übertragen werden. Die Franzosen wähnten sich sicher.

In der  Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar 1814 traf Feldmarschall Blücher mit General Gneisenau, dem Generalstab und dem  preußischen Korps unter General von Yorck in Kaub ein. Wie in Wartenburg  setzte dieser die Befehle zügig um. Noch im frostigen Dunkeln wurde mit dem Bau der ersten Pontonbrücke vom rechten Ufer bis zur in der Mitte des Rheins gelegenen Pfalzinsel unter Verwendung  von 27 russischen Leinenpontons begonnen. Gegen 2.30 Uhr brachen 200 Brandenburgische Füsiliere in Ankernachen mit Hilfe von Einheimischen zum gegenüberliegenden Rheinufer auf. In jedem dieser Kähne waren 10 bis 12 Soldaten, die bei jeder Fahrt übergesetzt wurden, dazu 4 bis 5 Schiffer und vorn und hinten ein Soldat mit geladenem Gewehr. Unter Hurra erstiegen die ersten Männer das Ufer und besetzten die steilen, schneebedeckten Weinberghänge. Eine anrückende französische Einheit wurde zwar im Morgengrauen zurückgedrängt, aber der Nachzug der eigenen Truppen stockte. Durch die starke Strömung war der Bau der Brücke von der Pfalz zum linken Ufer erschwert. Teile der 44 russischen Pontons waren abgetrieben und musste nun  wieder festgezurrt werden. Es herrschte Kälte und Glatteis. Erst am Morgen des 2. Januars konnte die Brigade des Generalleutnants von Hünerbein(1762-1819) übersetzen. Die ersten Einheiten von Infanterie, Kavallerie und Artillerie standen unter dem Befehl des Generalmajors von Katzler(1764-1834). Dann folgte ein Gros unter Oberstleutnant  Hiller von Gaertringen(1772-1856). Yorck hatte mit seinem Stab auf der Pfalz Aufstellung genommen, um den Übergang zu kontrollieren, denn Geschütze und Wagen durften die Brücke nur einzeln passieren. Es dauerte bis spät in die Nacht zum 3. Januar. Am Morgen folgte das russische Korps. Nun begann der Kampf auf französischem Boden.

 Diese detaillierte Darstellung verdanken wir dem jüngsten Adjutanten im Stab von Yorck, dem Leutnant Johann Philipp von Wussow (1792-1870). Mit 20 Jahren nahm er am Russlandfeldzug teil, 1813 an den Kämpfen der Befreiungskriege und erwarb für seinen Einsatz beim Übergang bei Wartenburg das Eiserne Kreuz II. Klasse.

In der Nacht vom 13. zum 14. Januar 1814 gelingt es den preußischen Truppen unter General Leopold Wilhelm von Dobschütz(1763-1836), nach heftiger Kanonade, die Festung Wittenberg zu erstürmen. Torgau hatte schon kapituliert.

(Wolfgang Kunze)

Literatur:
Wernecke, Gustav, Wartenburg einst und jetzt, Wittenberg 1913, ND 2003
Erckmann/Chatrian, Ein Soldat von 1813, Berlin/Weimar 1985
Wussow, Kriegsaufzeichnungen in: Die preußische Invasion begann an Neujahr 1814, WELT 2013
Durch die Jahrhunderte – Beiträge zur Geschichte, Teil II, Wittenberg 1983