Vor 205 Jahren – Januar bis April 2014

Wartenburg in Sachsen:  7. April, Gründonnerstag, zu  Ostern 1814
Mit eiligen Schritten lief, nein, sprang Pfarrer Karl August Rudolf Gerstäcker die Treppe zum Arbeitszimmer hinauf. Seit Wochen fühlte er sich wieder um Jahre jünger. Seine Frau Sophie Wilhelmine ließ ihm mitteilen, er war seit Mittag bei seinem Schwager Friedrich August auf dem Rehahnschen Hof, dass ein Bote aus Wittenberg umfangreiche Post im Pfarrhaus hinterlegt hätte. Schon vor Tagen hatte man ihn in Wittenberg darauf vorbereitet. Freudig drückte er nun die Tür zum Arbeitszimmer auf. Von weitem sah er einen größeren verschnürten Stapel auf dem Tisch liegen. Hastig sortierte er die neben dem Packet liegenden Schriften und Nachrichten, darunter auch zwei  besonders versiegelte Briefe.
Ruhiger begann er nun das Bündel aufzuknoten. Es enthielt mehrere Zeitungen, vor allem ältere und neuere Ausgaben der Großherzoglich Badischen Staatszeitung und des Rheinischen Merkur. Als alles geordnet schien, begann er aufmerksam zu lesen. Nach und nach zeichnete sich ein umfassendes Bild der Ereignisse ab.

Zur selben Zeit wie Blücher überquerten die russischen Korps der Schlesischen Armee den Rhein,  General Osten-Sacken bei Mannheim und General St. Priest zwischen Neuwied und Koblenz.
Das 1. Armekorps unter General Yorck hatte am 5. Januar 1814 einen Ruhetag eingelegt. Trotz einsetzendem Tauwetter ging dann der Vormarsch zügig weiter und erreichte einige Tage später in Richtung Saar St. Wedel.
Von hier schrieb Gneisenau am 9. Januar euphorisch an den Freiherrn von und zum Stein:
„Trier ist unser. In wenigen Tagen wird unsere Kavallerie Luxemburg blockiert haben. Das linke Ufer der Saar… (ist von den Franzosen) verlassen (und wir werden uns) nach Metz begeben. Von hier sind es noch sechzehn kleine Märsche nach Paris.“

Gerstäcker hielt inne, schaute zum Bücherregal, stand auf und griff nach der großen Kartensammlung, die ihm sein Vorgänger und nachmaliger Schwiegervater Magister Friedrich August Völkner (1740-1802) noch vor der Hochzeit vermacht hatte. Er suchte die passenden Seiten, den großen Rhein und westlich davon die Weiten des französischen Gebietes. Nun vertiefte er sich einerseits in den Zeitungstexten, schaute aber andererseits sich vergewissernd auf eine alte Frankreichkarte.
Von Saarbrücken über Metz nach Paris sind es knapp 400km, das wären Tagesmärsche von etwa 25km gewesen. Was für ein Optimismus! Es sollten zig-fache Kilometer mehr werden und der Feldzug mehrere größere Schlachten und Gefechte umfassen als im Jahr 1813, die Völkerschlacht ausgenommen. Trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Koalitionstruppen erwies sich der Winterfeldzug von 1814 schwieriger als erwartet.
Am 17. Januar nahm Blücher sein Hauptquartier in Nancy. Er wusste, dass nach seiner Rheinüberquerung unter den Verbündeten große Unstimmigkeit herrschte. Streit gab es darum, ob man rasch auf Paris vorstoßen oder vorsichtiger sein sollte, um den Kaiser der Franzosen vielleicht zu einem Friedensbündnis zu bewegen. Aber Blücher drängte vorwärts. Auf nach Paris!

Napoleon war inzwischen am 25. Januar von dort mit großem Aufgebot abgefahren. Neben ihm in der Kutsche saß der inzwischen zum Großmarschall des kaiserlichen Palastes ernannte General Bertrand, dem es am 3. Oktober 1813 nicht gelungen war, den Elbübergang der Schlesischen Armee bei Wartenburg zu verhindern. Drei Monate später stand diese Armee Blüchers in Frankreich.
Der Kaiser befahl noch aus seinem Wagen heraus, direkt nach Brienne zu marschieren, die preußischen und russischen Truppen der Schlesischen Armee anzugreifen und auseinanderzutreiben. An der dortigen Militär-Adelsschule hatte er ab 1779 fünf Jahre lang sich seine Sporen verdient. Am 29. Januar 1814 kam es, siegreich für Napoleon, zur Schlacht von Brienne.
Aber drei Tage darauf, am 1. Februar, setzte sich unweit davon in der Schlacht von La Rothiere Blücher durch. Nach dieser Schlacht verfiel man in eine Hochstimmung. Diesmal schrieb der Befehlshaber der Hauptarmee Schwarzenberg überschwänglich, Blücher werde sich in fünf Tagen in Paris befinden. Was für ein Optimismus! Der Feldzug sollte noch zwei Monate dauern.

Zuerst gelang es Napoleon innerhalb weniger Tage die Initiative wieder zu erlangen. Die Schlacht von Montmirail am 11. Februar brachte die Ernüchterung für die Vebündeten. Sacken und Yorck machten sich gegenseitig Vorwürfe, es kam zum Zerwürfnis, das den weiteren Verlauf des Feldzuges überschatten sollte.
Die plötzliche Unentschlossenheit, die ständigen Hin- und Her-Bewegungen,  Nachtmärsche, Rückzüge, „…dem Soldaten ward die Mühsal des rastlosen Marschierens durch das niederdrückende Gefühl des Zurückgehens von Paris, dem man zum zweiten Male vergeblich nahe gewesen war, nur umso peinlicher.“ So drückte es Droysen in seinem Buch über Yorck noch höflich aus.

Erst mit der Belagerung von Soissons Anfang März und mit der erfolgreichen Schlacht bei Laon am 9. und 10. März, 130km nordöstlich von Paris, zeigte sich die Schlesische Armee wieder selbstbewusster. Das ermutigte auch Yorck zusammen mit General von Kleist zu einem abenteuerlichen Nachtgefecht. Die französischen Truppen wurden siegreich zurückgedrängt.

Am 13. März versuchte zwar Napoleon mit dem Gefecht bei Reims wieder “das Heft in die Hand zu nehmen“, in diesem Kampf wurde der russische General  St. Priest tödlich verwundet, aber die Lage wurde sichtbar aussichtsloser, denn er verwickelte sich immer mehr in einem Mehrfrontenkrieg .

Die Verbündeten eilten nun endlich nach Paris. Nordöstlich der Stadt fand am 30. März die Schlacht, die letzte des Winterfeldzuges 1814, auf dem Montmartre statt. 60 km südlich saß der Kaiser der Franzosen in Fontainebleau fest. Einen Tag darauf erfolgte die Besetzung der Stadt, der Einzug der drei  verbündeten Monarchen, wenig später die Abdankung Napoleons.

Plötzlich schreckte Gerstäcker hoch, hatte nicht die Kirchturmuhr schon den siebenten Glockenschlag ertönen lassen? Dass es auch langsam dunkler geworden war, hatte er gar nicht bemerkt. Auf einem kleinen runden Tisch standen Kerzen und er suchte etwas zerstreut das Feuerzeug. Als das Licht flackerte sah er die zwei Briefe und wollte sie öffnen.
Jetzt erst fiel ihm ein, dass er sich mit Küster und Lehrer Johann Friedrich Eigendorf noch vor Ostern treffen wollte. Für das neue Schuljahr hatte jener sich einiges durch den Kopf gehen lassen.
Trotz der unruhigen Zeiten sollte der Schulbetrieb wieder in geordnete Bahnen verlaufen. Das Schulgeld wollte er in dieser schweren Zeit senken, überlegte auch eine Reduzierung der Naturalabgaben und  wünschte sich, dass die Eltern ihre Kinder fleißiger zur Schule schickten.
Wo er nur blieb? In der letzten Zeit hatte sich Gerstäcker über den Gesundheitszustand seines väterlichen Freundes Sorgen gemacht. Doch da klopfte es unten an der Tür. Seine Frau begrüßte Eigendorf herzlich und er hörte diesen langsam die Treppe hinaufsteigen. Er freute sich, ihm die Neuigkeiten offenbaren zu können und er wusste nun auch, was er der Gemeinde in seiner Andacht verkünden würde… ein Ostern in Frieden.

(Wolfgang Kunze)

Literatur:

Droysen, J. G.,          Das Leben des Feldmarschalls Graf York von Wartenburg, Berlin 1854
Wernecke, G.,          Wartenburg einst und jetzt, Wittenberg 1913, ND 2003
Lange, F.,                  Neithardt von Gneisenau, Schriften von und über ihn, Berlin 1954
Crepon,T.                  Leberecht von Blücher, Leben und Kämpfe, Biografie, Berlin 1988
Wikipedia,                Befreiungskriege – Winterfeldzug 1814, 2019